Von Thomas Grüner
Die Welt hat vor einer Woche eine herausragende Persönlichkeit auf dem Gebiet der Verhaltensökonomie und des Finanzwesens verloren: Daniel Kahneman, der Wirtschaftsnobelpreisträger, ist im Alter von 90 Jahren verstorben. Er hinterlässt uns ein reiches Vermächtnis an Forschungsergebnissen, wie kognitive Verzerrungen die Entscheidungen der Anleger beeinflussen. Die Lehren daraus sind vielfältig und es lohnt sich, heute darüber nachzudenken.
Nehmen wir beispielsweise die „kurzsichtige Verlustaversion“. Die psychologischen Experimente von Kahneman legen nahe, dass Menschen Verluste mehr als doppelt so stark empfinden wie entsprechende Gewinne. Wenn zwei gleiche Auszahlungen in Aussicht gestellt werden, neigen Menschen dazu, die Wertentwicklung zu bevorzugen, die zu keinem Zeitpunkt einen „Verlust“ mit sich bringt. Ein Portfolio, das seinen Wert kontinuierlich um 50.000 Euro steigert, wird gegenüber einem Portfolio bevorzugt, welches zuerst 100.000 Euro zulegt und anschließend wieder 50.000 Euro an Wert verliert.
Aktienmärkte in der Praxis
Stellen Sie sich also vor, Sie hätten Ende 2021 in den S&P 500 Total Return investiert und erst heute wieder in Ihr Portfolio geschaut. Inklusive Dividenden hätten Sie damit eine Rendite von mehr als 13 Prozent in US-Dollar erzielt. Das ist keine schlechte Ausbeute, allerdings enthält diese Wertentwicklung einen Rückgang von 24,5 Prozent vom Höchststand Anfang 2022 bis zum 12. Oktober 2022. Ein erfolgreicher Weg mit vielen Stolpersteinen – Normalität am Aktienmarkt.
Legt sich der kurzsichtige Anleger also selbst Hürden in den Weg? Tendenziell ja, denn bei jeder Überprüfung der Wertentwicklung lauert die potentielle Gefahr, dass temporäre Verluste überbewertet werden. Ist es also der Weisheit letzter Schluss, einfach die Augen zu schließen und nie wieder in sein Portfolio zu schauen? Allzu realistisch erscheint dieses Szenario auch nicht, gerade weil große Marktbewegungen für viele Schlagzeilen und emotionale Diskussionen sorgen. Der Schlüssel liegt also darin, seine Emotionen im Zaum zu halten und sich bewusst zu werden, dass der eigene menschliche Verstand durch seine „schiefe“ Wahrnehmung von Verlusten und Gewinnen in gleicher Höhe eine emotionale Hürde aufstellt, die es zu überwinden gilt.
Rationalität ist gefragt
Volatilität ist nichts, was man als Anleger prinzipiell meiden sollte. Wenn es Turbulenzen am Markt gibt, kann der Drang, aus den Aktienmärkten auszusteigen, überwältigend sein. Es kann aber auch nur eine kurzsichtige Verlustaversion sein, die mit einer kognitiven Verzerrung einhergeht und Anleger dazu verleitet, unbeabsichtigt höhere Risiken einzugehen, nur um kurzfristige Schwankungen zu vermeiden. Wenn man dem Markt fernbleibt, bleibt man vielleicht von der emotionalen Achterbahnfahrt verschont, die mit den Schwankungen der Aktienkurse einhergeht. Die vermeintliche „Sicherheit“ ist jedoch illusorisch, wenn man sich dadurch weiter von den langfristigen finanziellen Zielen entfernt.
Fazit: Eine der größten Herausforderungen für jeden Anleger ist es, sich auf seine langfristigen Ziele und Bedürfnisse zu konzentrieren, wenn man mit kurzfristigen Rückschlägen und Emotionen konfrontiert wird. Bevor Sie die „emotionale Reißleine“ ziehen und aus Angst vor Verlusten aus dem Aktienmarkt aussteigen, rufen Sie sich die Erkenntnisse von Daniel Kahneman in Erinnerung. Seine Forschung bietet hilfreiche Denkanstöße, um sich den Herausforderungen des Aktienmarkts erfolgreich zu stellen.
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Thomas Grüner ist Gründer und Vice Chairman der Vermögensverwaltung Grüner Fisher Investments. Weitere Informationen unter www.gruener-fisher.de.
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